Radexpedition 2004 "Trans Himalaya"

Expeditionsbericht

 

Von Lijiang nach Lhasa

Tibet - ist das Dach der Welt. Es ist nicht nur das am höchsten liegende Land unserer Erde, sondern auch das am schwersten zu ereichende. Nun befinden wir uns in Lhasa der Hauptstadt Tibets, genießen eine heiße Dusche und schlafen in einem warmen Bett. Doch um hier her zu gelangen, liegen fast 2.000 km und in der Summe 30.000 Höhenmeter hinter uns. Es ist ein erhebendes Gefühl, die erste so schwere Etappe der Trans-Himalaya-Radexpedition, gemeistert zu haben. Denn noch vor ein paar Wochen, als wir voller Energie in Lijiang aufgebrochen sind, ahnten wir nichts von dem, was uns erwartet hat.

Den Morgen, an welchem wir in Lijiang losfuhren, werden wir nie vergessen. Gerade Gil, der am Vortag Vater eines gesunden Jungen geworden ist, wird ihn wohl ewig in Erinnerung behalten. Vor uns liegen 300 km nach Zhongdian, dem eigentlichen Shangrila, dem verlorenen Land. Über einen kleinen Pass von 2.550 m geht es hinweg und anschließend hinunter zum ersten der drei großen Flüsse, die wir noch überqueren müssen, dem Jangtse Kiang. Auf 1.800 m erreichen wir unseren tiefsten Punkt für die nächsten 5.000 km. Hier gibt es Erdbeeren wie in unserer Heimat und wir erlauben uns diese erfrischende Abwechslung. Wir fahren eine kleine Nebenstraße, um zur Tigersprung - Schlucht zu gelangen. Hier schneidet sich der Jangtse Kiang als unzähmbar scheinende Wassermacht zwischen zwei 5.000 m hohen Bergmassiven hindurch. Die Straße hängt am Berg und unter uns tobt einer der größten Flüsse Chinas. In langen Serpentinen kämpfen wir uns immer tiefer hinein in das faltenreiche Randgebirge des Himalaya. Unterwegs besuchen wir auch die bekannten "Bai Shui Tai", die Weißwasser - Terrassen, an denen man den Ursprung der Naxi - Kultur vermutet. Inmitten von dichten Waldgebieten liegen die türkisblauen Kalksynterbecken und entlohnen uns mit ihrer Schönheit für die Berg- und Talfahrt, welche uns jeden Tag aufs Neue zum Schwitzen bringt. Vor Zhogdian durchfahren wir im strömenden Regen noch 30 km Baustelle und versinken immer wieder im knietiefen Schlamm. Doch dies soll nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Strecke sein, welche noch vor uns liegt.

In Zhongdian haben wir den letzten Kontakt mit der Heimat, bevor wir uns auf machen, den wilden, noch so unerforschten Osten von Tibet zu durchfahren. Alle wünschen uns Glück und Kraft, was wir wohl auch brauchen werden, um die nächsten 1.700 km zu überstehen.

Ein weiteres Mal verlassen wir eine Stadt über einen Pass, doch dieser ist mit 3.400 m schon etwas höher. Und abermals geht es hinunter zum Jangtse Kiang, welcher sich aber viele hundert Kilometer weiter im Norden, auf 2.000 m Höhe befindet. In einem wüstenähnlichen Tal entdecken wir Benzilan von wo es 70 km bergauf bis zum ersten 4.000er Pass geht. Durch unsere noch schlechte Akklimatisation brauchen wir zwei Tage, um über den 4.200 m hohen Dreierpass nach Dejin zu gelangen, der letzten offenen Stadt, bevor wir von nun möglichst jeden menschlichen Kontakt meidend in der TAR (Tibet Autonomus Region) unterwegs sein werden. Der erste chinesische Kontrollposten befindet sich in Yanjing, wenige Kilometer nach der Tibetischen Grenze. Wir passieren ihn unbemerkt. Am Mekong, dem zweiten der drei riesigen Flüsse, schlafen wir versteckt hinter zwei Gräbern, 10 m über der Strasse. Um am nächsten Morgen, früh um 3.00 Uhr, auch unbemerkt zwei Kontrollposten zu passieren. Die Piste ist schlecht. Dazu geht es noch ständig bergauf. Das Herz rast wie verrückt, als wir bei grell gleißendem Lampenlicht den Schlagbaum unterfahren. Von Aufatmen oder Ausruhen aber keine Spur. Erst 10 km weiter und einen zweiten Kontrollposten hinter uns gebracht, schlüpfen wir erschöpft, um 6 Uhr kurz vor dem Morgengrauen, in unsere Schlafsäcke. Erst als wir wenige Stunden später, am Fuße des 4.200 m Hong Shan (Pass) aufwachen, realisieren wir, dass wir nun die Grenze zu Tibet hinter uns lassen und in einem der entlegensten Länder unserer Erde unterwegs sind. Strömender Regen holt uns wieder auf den Boden der Realität zurück. Die schlechte Piste hinauf zum Pass trägt nicht unbedingt dazu bei, unsere Laune zu verbessern.

Etwa 110 km weiter müssen wir noch einmal bei Nacht einen Kontrollposten passieren. Dieser befindet sich bei Markham, wo sich auch der Yunnan-Tibet Highway von Kunming kommend mit dem Sichuan-Tibet Highway aus Chengdu verbindet. Auf diesem Abschnitt haben es gleich sechs herumstreunende Hirtenhunde auf Gil abgesehen. Noch bevor ihm Peer mit Steinen zur Hilfe eilt, beißen sie in die Reifen und auch in Gils Fuß. Zum Glück alles ohne nennenswerte Verletzungen, die sehr gefährlich werden können, da die Tollwut in Tibet schon seit Jahren weit verbreitet ist. In 4.100 m Höhe keuchen wir erschöpft im ungleichen Kampf dem nächsten Pass entgegen. Bei wunderschönem Wetter erreichen wir den 4.338 m hohen Lagu Shan, wo uns eine Tibeterin zum Essen einlädt. Es gibt zwar nur Tzampa und Joghurt aus Yakmilch gewonnen, doch in dieser Höhe ist dies unersetzbare Energie für jeden Fahrradfahrer. Die zweite aber letzte Abfahrt hinunter zum Mekong ist steinig und ca. 40 km lang. Das bedrückende dabei ist, dass wir uns auf der anderen Flussseite jeden einzelnen Höhenmeter wieder bergauf kämpfen müssen.

Zuerst geht es von 2.700 m über einen 4.000er Pass, um dann an den 5.008 m hohen Hongla Shan hinan zu fahren. Hier beginnen ein paar der schlimmsten Tage unserer bisherigen Expedition. Regenfälle und Schneegestöber begleiten uns fast jeden Tag, trotzdem versuchen wir in der dünnen Luft und der eisigen Kälte vorwärts zu kommen. Am dritten Tag überfahren wir erschöpft und durchnässt den Hongla Shan, doch der eisige Regen begleitet uns weiter. Jeden Abend hoffen wir frierend in unseren Zelten auf eine Wetterbesserung. Wir sind dann umso mehr enttäuscht, wenn wir ein weiteres Mal das immer nasse Zelt zusammenpacken, um zu versuchen, dem schlechten Wetter davon zu fahren. In Pomda, einem LKW-Stützpunkt und der Kreuzung nach Chamdo werden wir sogar vom Chinesischen Fernsehen interviewt. Doch als wir letztlich im knietiefen Schlamm und im nassen Schneegestöber dem nächsten Pass (Gama La) entgegen schieben sind wir mal wieder auf uns allein gestellt. Unsere Familien fehlen uns sehr, gerade in schlimmen Momenten wie diesen, denkt man oft an zu Hause und wir müssen die Zähne zusammen beißen, um diesen 4.618 m hohen Wetterpass zu erreichen. Die Piste ist fast unbefahrbar. Autofahrer haben keine Chance diesen Pass zu überqueren, da ein defekter LKW die ohnehin schlammige Piste versperrt. Nur wir als Radfahrer haben genug Platz zum Passieren, um auf der anderen Passseite über 70 Serpentinen bergab, zum letzten großen Fluss, dem Salween zu rollen. Während der endlos scheinenden Abfahrt spüren wir unsere Finger und Zehen nicht mehr. Zu kalt ist der eisige Wind, welcher uns entgegenweht.

Auf 2.800 m, im Tal des Salween angelangt, hört es endlich auf zu regnen und unsere geschundenen Körper atmen langsam wieder auf. An dem reißenden Fluss entlang geht es nun 100 km bergauf, streckenweise sogar auf Asphalt: Welch eine Erholung für unsere treuen Räder! Ein flacher, langer Pass (Bai La 4.400 m) liegt zwischen uns und Rawuk, das wunderschön eingebetet wie in einer Märchenlandschaft liegt. Es gibt glasklare Seen, riesige unangetastete Wälder und schneebedeckte Berge, fast ein schweizer Anblick. Unvorstellbar das wir uns im Osten von Tibet befinden. Umso weiter wir von den großen Höhen herunter kommen, umso dichter und üppiger wird der Wald. Diese so fabelhafte Gegend entschädigt uns für all die Strapazen, welche hinter uns liegen. Langsam rollen wir auf der 250 km langen Abfahrt vor uns hin und atmen den frischen, so reichlich erscheinenden Sauerstoff ein, währenddessen wir von einer heißen Dusche in Lhasa träumen. Auf einmal kommen wir an eine Biegung und sehen wie Bauarbeiter, welche die schlechte Piste immer wieder in Schuss bringen, wild mit den Armen gestikulieren. Sie versuchen uns vom Weiterfahren abzuhalten. Da keiner von uns ausreichend Chinesisch spricht und auch sonst jegliche Verständigung erfolglos bleibt, sind wir uns unschlüssig ob wir weiter fahren oder warten. Dann geht alles recht schnell. Binnen Sekunden rutscht nicht weit vor uns der halbe Berg in einer unvorstellbaren Wucht auf die Straße und begräbt alles unter sich. Knappe 100 m von uns entfernt springen die Bauarbeiter zur Seite und entkommen somit nur um Haaresbreite dem sicheren Tod. Die gesamte Straße ist überzogen von Felsbrocken bis zur Größe eines Einfamilienhauses. Erst jetzt wird uns klar, dass auch wir unter den vielen Tonnen schweren Felsen begraben lägen, wäre da nicht dieses Quäntchen Glück, welches zu solch einer gewagten Expedition einfach dazu gehört. Mit fünf Helfern und einem wachen Auge in Richtung Berg schaffen wir unsere 70 kg schweren Räder auf die andere Seite der verschütteten Piste, welche noch für einen ganzen Tag gesperrt bleibt. Anfahrende Autos und Busse müssen warten. Deren Insassen schauen uns neidisch hinterher, da wir die einzigen waren, die diese Gefahrenstelle unbeschadet passieren konnten.

Noch lange sitzt uns der Schreck in den Knochen und immer wieder blicken wir rechts von uns den Berghang hinauf, um sicher zu gehen, nicht unter dem nächsten Erdrutsch begraben zu werden. Jeden Tag schlafen wir im Freien, in einem immer dichter werdenden Regenwald, der uns umgibt. Die Flora und Fauna, die wir hier erleben, ist so untypisch für Tibet, wie Regen in der Wüste. Es gibt Zikaden, Moskitos, Blutegel, Riesenschlangen, Affen sowie viele andere Bewohner des Regenwaldes und all das nur 600 km von Lhasa entfernt. Bei Tang Me erreichen wir das letzte Mal eine Höhe von 2.100 m und biegen ab in ein grünes Tal, um wieder einmal 100 km bergauf zu fahren. Noch zwei Pässe liegen zwischen uns und der Hauptstadt Tibets - Lhasa. Durch Ningyi und Bayi müssen wir noch einmal heimlich bei Nacht hindurch, um nach 900 km TAR - Zone aus dem, vor Ausländern abgeschotteten Gebiet hinaus zu fahren. Es sind noch 400 asphaltierte Kilometer bis Lhasa. 250 km davon fahren wir bergauf bis zum Mi La (4.930 m). Kurz vor dem letzten Pass genießen wir ein verdientes Bad in einer heißen Quelle nahe der Strasse.

Langsam verschwindet die Vegetation und wir lassen die grünen Wälder von Osttibet hinter uns. Wir haben es geschafft, den stark gefalteten und deshalb so kräftezehrenden Rand des Himalayas zu durchqueren. Nun befinden wir uns auf dem riesigen Tibetischen Hochplateau, welches wir erst bei Kashgar, 3.000 km weiter im Westen, wieder verlassen werden. Die letzten Kilometer nach Lhasa rollen wir, wie von selbst. Aber nicht nur weil es flach ist, sondern auch die erste wohlverdiente Pause seit einem Monat zieht uns in die heilige Stadt. Auf unserem langen Weg haben wir Pilger getroffen, welche monatelang mit ihrem eigenen Körper die Strecke von ihrem Heimatort bis nach Lhasa ausmessen. Manche mögen denken, dass ist unmöglich oder Selbstgeißelung, doch wenn man die Goldenen Zinnen des mächtigen Potala Palastes am Horizont erblickt, hat man dieses unbeschreibliche Gefühl, die heiligste Stadt in den Wolken erreicht zu haben. Genau diese Momente entschädigen jeden, der sich auf den langen, beschwerlichen, aber auch abenteuerlichen Weg gemacht hat. In Lhasa waschen wir das erste Mal nach 27 Tagen nicht nur uns, sondern auch unsere Wäsche, bringen unsere verdreckten Fahrräder wieder auf Vordermann, telefonieren mit der Heimat und genießen etwas Ruhe sowie das Flair der tibetischen Hauptstadt.

Gil & Peer

 

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